Autorentools – Die Qual der Wahl

28. Februar 2020 - Alle Kategorien, Tool-Auswahl

Autoren:
Expertenteam-LuB-Mitglied Christian Helmus, Debeka Versicherungen
Chris Hollweg

Kennst Du das? Man versammelt ein paar Leute in einem Raum, die eine Feature-Liste, zum Beispiel für ein neu zu beschaffendes Autorentool, erstellen sollen. Innerhalb von Minuten übertrumpfen sich alle gegenseitig dabei, weitere Funktionen zu finden, die das Tool unbedingt haben sollte. Dabei bleibt die Vernunft oft auf der Strecke:

  • Man glaubt, dass ein Autorentool umso besser ist, je mehr Features es hat.
  • Ob man die einzelnen Funktionen tatsächlich braucht, spielt keine Rolle.
  • Ob hinter der einzelnen Feature-Bezeichnung auch wirklich das steckt, was man sich vorstellt, wird nicht hinterfragt.
  • Wie gut die Einzelfunktion ihre Aufgabe erfüllt, hält man für nicht so wichtig.


Schlimm, oder? Aber zum Glück kann man sich mit einer Kombination aus Wissen über typische Autorentool-Features, der Kenntnis ihrer Anwendungsszenarien und einem strukturiertem Auswahlprozess dagegen wappnen.

 

Worthülsen, die Dir als Features verkauft werden und Features, bei denen Du genau hinsehen solltest

Multimedialität

Ein modernes Autorentool sollte schon etwas mehr erzeugen können als einen Lerninhalt, der nur aus Texten und Bildern besteht.  Das tun auch die meisten. Es ist schließlich keine große Kunst, alle erdenklichen Medienarten einzubinden. Aber kann man sie auch damit bearbeiten oder gar erzeugen? Kann man zum Beispiel im Tool Videos mit Untertiteln oder Interaktionen versehen, Audios und Bildeinblendungen synchronisieren? Und wie komfortabel ist das umsetzbar? Oder reicht die Einbindung aus, weil die Bearbeitung an anderer Stelle gemacht wird? Wie komme ich eigentlich an multimediale Ressourcen? Bietet das Tool eigene Medienbibliotheken oder muss ich mich um andere Quellen kümmern?

Mobil-Fähigkeit

Dass ein Autorentool mobil-fähige Inhalte erzeugt bedeutet zunächst nur, dass diese Inhalte auf Mobilgeräten laufen. Die spannende Frage ist, wie sie es tun. Machen wir uns nichts vor. Die Nutzer profitieren am meisten von mobilen Lerninhalten, die speziell für Mobilgeräte konzipiert wurden. Das ist aus verschiedenen Gründen oft nicht möglich. Baut man Lerninhalte, die mit dem geringstmöglichen Aufwand möglichst überall laufen sollen, muss man Kompromisse eingehen. Die schlechteste Art, einen Desktop-Lerninhalt auch auf Smartphones anzuzeigen ist, ihn einfach zu verkleinern. Besser wäre es, wenn der Content sich entweder responsiv oder adaptiv verhalten würde.

'Responsiv' bedeutet, dass sich die Seiten jeder Bildschirmgröße flexibel anpassen. Der Platz wird dabei optimal ausgenutzt. Das zieht allerdings Abstriche beim Design nach sich. Dieses Vorgehen eignet sich am besten, wenn man nicht weiß, mit welchen Geräten die Lerninhalte aufgerufen werden.

'Adaptiv' bedeutet, dass der Lerninhalt für bestimmte Zielgrößen optimiert ist. Dadurch sind die Seiten besser designbar. Bei abweichenden Seitenverhältnissen bleibt allerdings Platz auf dem Bildschirm frei. Dieses Vorgehen eignet sich besonders, wenn die Geräte der Nutzer bekannt sind - zum Beispiel weil nur mit Dienst-Handys gelernt wird.

SCORM

Der SCORM-Standard regelt die Kommunikation des Lerninhalts mit einer Lernplattform, einem LMS. Die Mindestanforderung an eine nette Kommunikation ist sich zu begrüßen, wechselseitig den Namen zu nennen, zu fragen wie es dem Gegenüber geht und sein eigenes Befinden zu artikulieren. Bei eLearning-Systemen ist das auch so. Der Content sollte mindestens seinen Titel und seinen Bearbeitungszustand dem LMS so übermitteln können, dass dieses etwas mit den Daten anfangen kann. Das leistet nahezu jedes Autorentool. Oft aber auch nicht mehr als das, obwohl der SCORM-Standard deutlich mehr Möglichkeiten bietet. In der Regel reicht das aber auch aus. Generell solltest Du einen Blick darauf werfen, welcher Standard im Zielsystem genutzt wird. Ist es SCORM oder xAPI zum Austausch von Lernstandsdaten oder werden gar keine Bearbeitungsstände dokumentiert und es reicht HTML5?

Gamification

Wenn der Tool-Anbieter von Gamification spricht, dann meint er nicht, dass Du mit seinem Produkt Computerspiele bauen kannst. Gamification ist die Anwendung spieltypischer Elemente in einem spielfremden Kontext. Zu diesen spieltypischen Elementen gehören unter anderem Erfahrungspunkte, Fortschrittsbalken, virtuelle Güter, Auszeichnungen, Highscores oder Ranglisten. Alle Features, bei denen Lernende gegeneinander antreten oder ihre Leistungen in irgendeiner Form verglichen werden sollen, erfordern eine Server-Komponente, zum Beispiel ein LMS oder eine andere Plattform.

Verteiltes Arbeiten

Nicht selten arbeiten mehrere Menschen an einem Lerninhalt: Experten für den jeweiligen Inhalt, eLearning-Spezialisten, Grafiker u.v.m. Ob man deswegen ein Tool braucht, das mit Rollen- und Rechtesteuerung verteiltes Arbeiten über das Internet unterstützt, ist trotzdem einen genaueren Blick Wert. Denn den Vorteilen der Versionskontrolle und Prozesssteuerung stehen auch einige Nachteile gegenüber:

  • Ein Online-Tool mit Check In und Check Out erzeugt Wartezeiten. Wenn man den Lerninhalt alleine erstellt, ohne mit anderen online zusammen zu arbeiten, findet man das auf Dauer nicht lustig.
  • Jeder, der eine Phase im Projekt übernimmt, sollte das Tool zu einem gewissen Grad bedienen können – und wollen.
  • Die Komplexität im Tool verankerter Rollen- und Rechtesteuerung ist für viele WBT-Projekte unnötig. Lässt sich die Komplexität für diese Anwendungsfälle nicht deutlich reduzieren, wird sie zum Hindernis.


Dialogsimulation

Dieses Feature hat nichts mit künstlicher Intelligenz zu tun. Gemeint ist, dass das Tool folgendes Szenario unterstützt: Dem Lernenden wird eine Auswahl angeboten, zum Beispiel vier Möglichkeiten, in einer Gesprächssituation zu antworten. Dahinter liegen dann auch vier unterschiedliche weitere Verläufe, die man jeweils weiter verzweigen kann. Die Gestaltung derartiger „Dialoge“ wird schnell zur Herausforderung für Autoren. Ein Tool, das mit Dialogsimulation wirbt, sollte die Pfade und Verzweigungen anschaulich visualisieren.


Unsere Empfehlungen zur Toolauswahl

1. Vorüberlegungen

1.1 Wie soll das Tool eingesetzt werden?

Von wem soll das Autorentool wie oft genutzt werden?
Ist es der Vollzeit-Content-Creator oder handelt es sich um Fachkräfte, die das Tool selten oder auch nur ein einziges Mal einsetzen werden?

Je seltener man mit dem Tool arbeitet, umso selbsterklärender sollte es sein. Das geht in der Regel mit einem eingeschränkten Funktionsumfang einher. Hier sind so genannte Rapid-Authoring-Tools gefragt. Im Gegenzug entwickeln sich versierte Fachautoren schnell weiter. Ein Tool für diese Nutzergruppe sollte dies ermöglichen, also Luft nach oben haben. Einige Anbieter begleiten begleiten die Fachautoren und fördern Communities of Practice.

1.2 Soll Ausgangsmaterial verarbeitet werden?

Sollen aus PowerPoint-Präsentationen eLearnings entstehen?
Werden Videos genutzt oder sollen sie weiterverarbeitet werden?
Oder werden die eLearnings „auf der grünen Wiese“ entwickelt?

Auch wenn die Antwort auf alle drei Fragen „ja“ lautet – Tools die alles können, können nicht zwangsläufig alles gleich gut. Priorisiere daher die Anforderungen (siehe Punkt 2) und sieh genau hin.

1.3 Wie sollen die mit dem Tool produzierten Inhalte eingesetzt werden?

Werden die eLearnings als Bausteine im Rahmen eines Blended-Learning-Szenarios eingesetzt oder sind sie als reine Selbstlernmedien vorgesehen?
Spielt Mobile Learning eine Rolle?
Wenn ja, wie  - „bring your own device“ oder Diensthandys?
Benötigst Du Content für Performance Support?
Müssen die Bausteine IDD*-Anforderungen genügen?

Überlege: Welche Funktionen, die Du kennst,  unterstützen diese Anforderungen an die Inhalte?

2. Deine Anforderungen an die Funktionen des Tools

Welche Muss- und Kann-Funktionen ergeben sich aus Deinen Vorüberlegungen?

Priorisiere in den beiden Funktionskategorien.

3. Erstelle eine Liste der in Frage kommenden Anbieter

Welche Tools erfüllen nach den Beschreibungen der Hersteller alle Muss-Anforderungen?

Ggf. geben Dir auch Demo-Inhalte oder Tool-Demos (YouTube-Videos, Tutorials, Webinare,…) oder Fachmessen, wie zum Beispiel die Learntec in Karlsruhe, Aufschluss darüber.

4. Binde die Unternehmens-IT ein und berücksichtige andere Systeme

Welche Tools kommen unter Berücksichtigung der IT- oder anderer Rahmenbedingungen nicht in Frage?

Reduziere im Zusammenwirken mit der Unternehmens-IT die Liste der möglichen Tools. Binde auch Datenschutz und IT-Sicherheit mit ein. Manche Tools sind Cloud-Lösungen und berühren damit zwangsläufig diese Bereiche.

5. Live-Demonstrationen bzw. Umsetzung eines typischen Beispiels mit den Tools der engeren Auswahl

Wie gut lassen sich typische Anwendungsfälle damit Umsetzen? Wie benutzerfreundlich sind die Tools bei den wichtigsten Funktionen? 

Jetzt müssen die verbliebenen Tools zeigen was sie können!

6. Entscheidung

Vielleicht wird es keine Entscheidung für „das“ Tool. Es ist nicht ungewöhnlich, dass man mehrere unterschiedliche Tools nutzt, zum Beispiel wenn man sehr unterschiedliche Einsatzszenarien bedienen muss und kein Tool alle davon zufriedenstellend bedienen kann. Du solltest Dir auch Gedanken machen, ob oder wie Du die Produktionsprozesse gestalten möchtest, gerade bei Aktualisierungen. Das Tool sollte deine Vorhaben unterstützen oder zumindest nicht erschweren.

 

Diese Checkliste kannst Du hier als PDF downloaden. 
 

* Insurance Distribution Directive, zu Deutsch: Versicherungsvertriebsrichtlinie

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